Mittwoch, 8. August 2012

„Die Meinungsspalte“ (Kolumne)

Von Prof. Dr. Franz Buchholz, 52, Oberstudiendirektor am Münchner Gymnasium ***

Die liebe Müh’ mit der Selbstständigkeit

Ich habe einen Freund, nennen wir ihn mal Gustl, der checkt via App am Abend jeweils das Wetter ab. Wenn die Prognose auf Sonne und warm lautet, legt er entsprechende Kleidung bereit. Am Morgen kann’s dann sehr düster und kühl ausschauen. „Sie haben’s ja vorhergesagt“, pflegt der Gustl zu sagen. Den Schirm nimmt er drum nicht mit. Und wenn’s zu regnen anfängt, beharrt mein fescher Kumpel darauf, dass das nicht sein könne. Er friert, wird nass – aber am Abend wird wieder das iphone als Orakel befragt.

Kennen Sie auch solche Leute?
Solche Menschen nenn’ ich unselbstständig. Trauen nicht auf sich selbst. Stützen sich lieber auf irgendwelche Infos ab. Infos, die wasweissichwoher kommen. Die wasweissichfürein Depp irgendwo eingetippt hat.

Euer schönes Land, die Schweiz, in der ich zur Zeit zu Besuch weile, hat kürzlich „Geburtstag“ gefeiert. Die 1.-August-Reden haben mich unter anderem aufs Thema gebracht. Wie sollte das sein mit der Selbstständigkeit der Schweiz? Wie weit geht die Souveränität? Inwieweit ist man abhängig von anderen? Der Helvetierhäuptling Blocher rief seiner Gefolgschaft in einem Wäldchen vor Zürichs Toren zu: „Wacht auf!“ (NZZ vom 2.8.). Die Elite neige zum Verrat. Aufwachen – finde ich gut! Das bringt einen bestimmt zu sich selbst. Der schlimmste Verrat ist aber immer noch der Selbstverrat!
Blochers Erzfeindin, die Bundespräsidentin Widmer Schlumpf, erinnerte an die Abhängigkeit der Schweiz von Europa. Stimmt auch. Wahre Selbstständigkeit ist sich eben der Verflechtungen und Abhängigkeiten bewusst, in welchen sie sich erst entfalten kann. Natürlich haben auch Blocher und seine Mitstreiter Recht: Eine rückgratlose Schweizer Regierung – sofern sie das denn wäre – verdiente die Segnungen der Souveränität nicht.
Mühe habe ich aber, wo einfach nur geschnödet wird über das, was andere falsch machen. Das kenne ich als Oberstudiendirektor am Gymnasium, Fächer Deutsch und Musik, zur Genüge. Meine Schüler und Schülerinnen sind allesamt „Whistleblower“ in Sachen Mobbing, Missstände an der Schule und Ungerechtigkeiten. Aber selbstständig denkend sind sie darum noch lange nicht.
Die jungen Leute von heute sind sich nur allzu gewohnt, dass Papa und Mama für jedes an die Wand gefahrene Auto die Zeche bezahlen. Ich weiss als Vater zweier Halberwachsener ein leidvoll Lied davon zu singen.

Ich weiss, was ihr denkt: Wie stellt Buchholz sich denn selbst zum Thema? Das Dilemma habe ich mir aber auch selbst eingebrockt. Ich war frei in der Wahl des Themas. Vielleicht sollte ich ja die Unselbstständigkeit impersonieren. Sicher bin ich jedenfalls, dass mein Entscheid, hier in Basel zwei Sommermonate meines Sabbatsemesters zu verbringen, unter den „Beppis“ – heissen die so wegen der vielen Italiener? –, auf meinem eigenen Mist gewachsen ist. Vielleicht sind wir über Fünfzigjährigen aber auch stark von den Hormonen abhängig. Midlife-crisis lässt grüssen. Und von den Einflüsterungen unserer Gemahlinnen. So war es auch meine Frau Rosmarie, die mich auf den „Link“ zwischen meiner Nietzsche-Leidenschaft und Basel aufmerksam machte.

Seit ich 16 bin, lebt nun diese „antichristliche“ Obsession für den Freidenker Nietzsche. Ich war damals Messdiener. Und blieb es bis ins immer noch keusche Alter von 26 Jahren. Die Keuschheit hat man (frau!) mir inzwischen abgenommen, die Nietzsche-Prägung freilich nicht. Der Philosoph und Altphilologe hat einige (unerspriessliche) Monate an der Uni Basel verbracht – ich bin unter anderem hierher gekommen, um zu schauen, was sich an Spuren von seiner Präsenz noch im Dreiländereck finden lässt...
Doch wie selbstständig – besser mit oder ohne zweites -st-? – ist eine solche postpubertäre Träumerei? Wohlgemerkt, 36 Jahre begleitet sie mich nun. Länger, als Nietzsche geistig gesund auf dem Erdenrund wandelte.

Selbstständigkeit wird vom Bürger heute gefordert – aber hat er oder sie auch die Verantwortung, den Spielraum, die Einsichtigkeit dazu? Am Rande  sei's notiert: Nietzsches Übermensch, der war als Selbstständiger gedacht gewesen. Der hätte sich allem ausgesetzt. Auch der Leere des Zeitgeistes. Und damit beginnt vielleicht vieles.

Darum: Ermanne dich, Franz: Selbstständigkeit ist für dich doch kein Thema mehr. Dem bist du entwachsen. Du hast deine Selbstständigkeit verselbstständigt. Einst wolltest du ja richtige Bücher schreiben. Vielleicht waren am Ende Lehrmittel über Rhetorik, Reim- und Verslehre aber verdienstvoller. Freilich: Selbstständiger waren sie nicht!

Kommen wir zum Schluss. Kurzum: Man will Selbstständigkeit, versteht aber oft etwas Falsches drunter. Ich wollte mehr Zeit für mich und bin in Basel gelandet, bei Marc und beim „Raum zum Schreiben“. Geschrieben habe ich nun. Phhw, das war anstrengend! Wie das so ist mit selbstständiger, innovativer Arbeit. Schreiben macht also selbstständiger.

Was ich noch sagen wollte: Nicht alles ist für bare Münze zu nehmen. Könnte also Ironie sein. Sowohl aus meinem Mund wie auch aus anderer Quelle.

Vielleicht auch die Wettervorhersage?